Warum fühlen wir uns an bestimmten Orten „zu Hause“? (why do we feel „at home“ in some places?)

(English version below)

„Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen“, meinte der Schriftsteller Theodor Fontane. Aber was ist das eigentlich, diese „Heimat“? Wenn Du Deinen Bekanntenkreis fragst, dann hörst du vermutlich: Heimat das Gefühl, zu Hause zu sein.

Heute geht es weniger um Architektur und Kognition, als vielmehr um die Emotion und mentale Vorstellung eines Ortes, der nicht unbedingt geographisch ist.

  • Ist die Heimat ein “Ubi bene, ibi patria? – Wo es mir gut geht, da ist meine Heimat“?

Heimat als Geburts- und Wohnort

Heutzutage sind unsere sozialen Netzwerke in der ganzen Welt verteilt. Wir erreichen sie digital und sind selbst mobiler. Trotzdem leben 50% aller Deutschen in einem Umkreis von 40 Kilometern oder weniger von ihrem Geburtsort entfernt. Vielleicht, weil sie dort alles kennen. Ihnen ist klar, wie sie den Weg zu allen wichtigen Orten im Leben finden, wo sie sich entspannen oder etwas gegen Langeweile machen können, wo sie jemanden treffen, um sich auszutauschen – usw.

Wenn junge Familien in die Nähe ihrer Eltern ziehen, dann liegt das oft nicht nur daran, dass die Großeltern das Kind sehen möchten. Sondern auch daran, dass die Großeltern Zeit haben, auf das Kind aufzupassen. Das entlastet die Eltern. Ein soziales Netzwerk vor Ort bedeutet, bei Schwierigkeiten schneller aufgefangen zu werden.

Heimat ist also da, wo wir individuell Rückzug, Geborgenheit und Ruhe erleben; ein Ort, über den wir eine gewisse Kontrolle haben, den wir beeinflussen, und an denen andere Menschen uns unterstützen.


Neue Heimat: Fernab von Geburts- und Wohnort

Lange hing eine Zeichnung bei meinen Grosseltern. Ein Haus, eine Strasse, ein kleiner Fluss. Als Kind habe ich mich oft in dieses Bild hinein versetzt und versucht, mir Opas abenteuerliche Geschichten über seine Heimat in Schlesien im heutigen Polen vorzustellen. Sie bestehen aus einzelnen Bildern: das Verlassen des Hauses, Reisemomente in Zügen, volle Kamps. Lose Bruchstücke eines Menschenlebens. Teilweise erscheinen mir diese Erinnerungsbilder konstruiert. Der Verlust der Heimat und die mit der Reise verbundenen Strapazen waren für Heimatvertriebene tiefgreifend emotional und anstrengend. Es mag für das Gehirn einfacher sein, solche heftigen Lebensmomente zu verarbeiten, wenn man es als Abfolge positiver Bilder konstruiert. Aber das Gefühl dabei bleibt: die eigene Heimat, die verlassen wurde – und das neue „zu Hause“, das man sich noch erarbeiten muss.

Wenn man Flüchtlinge in Deutschland fragt, meinen manche, dass Heimat bedeutet, in der Fremde soziale Kontakte und Arbeit zu finden und die neue Sprache zu lernen. Oder, dass Heimat erst dann entsteht wenn die Familie nachgerückt ist. Ein Syrer schreibt: „Für mich ist Heimat nicht nur da, wo ich geboren wurde, sondern, wo ich mich sicher und wohl fühlen kann, wo ich mich weiterentwickeln kann, wo es viele Möglichkeiten gibt. (…) Jeder Geflüchtete hat irgendwie ein Stück seiner Heimat mitgebracht, das können Kleidungsstücke, Bilder oder Erinnerungen sein. (…) Nur manche haben es geschafft, die Familie mitzubringen. Die Familie aber liegt im Kern des Gefühls einer Heimatzugehörigkeit.“ (Der Tagesspiegel, 2018).

Heimat muss also nicht der Geburtsort oder Wohnort sein. Heimat ist ein erlebter, subjektiver Gefühlszustand, unabhängig von einem geographischen Ort. Die Migrations-Forschung sagt: Es dauert mehrere Generationen, bis man wirklich angekommen und integriert ist; die Fremde als neue, eigene Heimat erlebt.


Heimat als subjektiver Zustand

Die Psychologie definiert Heimat so: Unabhängig von politischen, religiösen und sozial kulturellen Definitionen, ist Heimat ein Gefühl. Es ist ein konstruiertes, mentales Bild aller Einstellungen zu allen Lebenserfahrungen die wir bislang gehabt haben (z.B. Orte, Menschen und Gesellschaften, persönliche Entwicklungen, Bindungen, Gefühle, Reflexionen, usw.).

Letztendlich ist Heimat also kein wirklich existierender Ort (auch wenn unsere Kindheit diese Assoziationen an einen bestimmten Ort wecken mag). Sondern ein emotionaler Zustand, bei dem wir ein positives Gefühl haben.

Dieses warme Gefühl der Heimat besteht aus vielen individuellen Zutaten:

  • Wohlbefinden / Rückzug / Geborgenheit / Ruhe (Gegenteil bei Heimatverlust: Stress, Entwurzelung, Desorientierung)
  • Kontrolle (Grad dessen, was ich beeinflussen kann und was ich kenne)
  • Identität (selbst sein dürfen, Sinneserfüllung erleben, Wärmegefühl)
  • Zugehörigkeit (Assoziationen der Verbundenheit, Lebenserfahrung)

Heimat als „Irgendwo da, wo man einer Gruppe zugehörig ist?“

Heimat ist dort, wo wir uns zugehörig fühlen. Strukturen wie unser Dorf oder unsere Stadt, unser Freundeskreis, unsere Religionsgemeinschaft, bis hin zu unserem stets gleichen lokalen Supermarktverkäufer, also verschiedene Gemeinschaften, geben uns Halt im Leben. Es sind Orte, an denen sich Rituale wiederholen, an denen wir unsere Identität definieren.

Interessanterweise haben in Religionen einige Menschen die Annahme, dass das Jenseits nach dem Tod die eigentliche Heimat ist, in der man vollkommen mit Gott ist; also: „Ich bin ein Gast auf Erden.“ Obwohl das eine These ist, die ich im Leben nicht überprüfen werde, kann ich mich mit dieser Idee nicht anfreunden. Ich bin Gast, weil mir das Leben auf diesem Planeten geschenkt wurde. Aber das Leben findet doch genau hier statt. An jedem neuen Ort baue und konstruiere ich mir ein neues Zuhause, und verbinde mich mit dem alten: der Erinnerung an das Heimatgefühl.

In der Recherche zu diesem Artikel erkannte ich: Wenn ich hier in der Fremde Heimweh habe, dann ist das nur ein zeitlich begrenztes Gefühl. Heimweh ist die Sehnsucht, während man in der Fremde ist, wieder in die Heimat zu wollen; ein „sich unter Fremden fühlen.“ Aber es ist nur ein mentales Bild. Denn ich will zu diesem Zeitpunkt ja genau hier sein. Ich habe das selbst gewählt und wähle es in meinem Beruf als Forscherin, die stetig umziehen muss, immer wieder neu. Nachdem mir diese Gedanken klar wurden, verschwand mein Heimweh. Und wenn es wiederkommt, dann werde ich einfach diesen Blogartikel lesen.

Es sind ja nur 10.316 km bis nach Hause.


Hier sind einige Denkanreize und Anregungen für Dich, wenn du weiter über das Thema Heimat nachdenken möchtest:

  • Was bedeutet Heimat für mich; aus welchen Aspekten besteht sie genau?
  • Wo fühle ich mich zugehörig: an welchem Ort, bei welchen Menschen, welcher Community, Kultur, oder Religion?
  • Fühle ich mich als Teil meines Dorfes/Stadt? Deutsch oder Europäisch? Und: ist mir diese Zugehörigkeit wichtig? Hat jemand diese für mich vordefiniert?
  • Wie kann ich mir mein Leben so einrichten, dass ich mich zu Hause fühle, auch wenn ich unter Fremden bin?
  • Brauchen wir das Konzept der Heimat in einer Welt, in der alle mobil und digital zu erreichen sind – oder ist es veraltet?

Wenn du magst, kannst Du Deine Ideen dazu unten im Kommentarfeld diskutieren. Vielleicht hast Du aber eher eine Sehnsucht, es dir jetzt zu Hause gemütlich zu machen und deine Gedanken dazu in einem Tagebuchbericht zu verfassen. Oder einfach nur in die Ferne zu starren und nachzudenken, vielleicht bei einer warmen Tasse Tee.

Bis bald, hier.


Weiterlesen? Aber gern:

Hussein Ahmad (2018). Flucht und Heimat: Wo bin ich zuhause? Der Tagesspiegel, Juni.

Fontane, T. (1861). Die schönsten Wanderungen durch die Mark Brandenburg.


English translation for your convenience, but awkwardly crappy, follows:

„Only the foreign country teaches us what we have in our homeland,“ said the writer Theodor Fontane. But what is this actually, this „homeland“? When you ask your circle of acquaintances, you probably hear: home is the feeling of being at home.

Today it’s less about architecture and cognition than about the emotion and mental imagination of a place that isn’t necessarily geographical.

  • Is home a „Ubi bene, ibi patria? – Where I’m well, there’s my home“?

Home as place of birth and residence
Nowadays our social networks are spread all over the world. We reach them digitally and are more mobile ourselves. Nevertheless, 50% of all Germans live within a radius of 40 kilometers or less of their birthplace. Maybe because they know everything there. They know how to find their way to all important places in life, where they can relax or do something about boredom, where they can meet someone to exchange experiences – etc.

When young families move near their parents, it’s often not just because the grandparents want to see the child. It is also because the grandparents have time to look after the child. This relieves the parents. A local social network means being able to cope more quickly with difficulties.

Home is therefore where we experience individual retreat, security and peace; a place over which we have a certain control, which we influence and where other people support us.


New home: far away from birth and place of residence
For a long time a drawing hung by my grandparents. A house, a street, a small river. As a child I often put myself in this picture and tried to imagine Grandpa’s stories about his home in Silesia, today Poland. The stories are exciting and adventurous. They consist of single pictures: leaving the house, travel moments in trains, full camps. Loose fragments of a human life. Partly these memory pictures seem constructed to me. The loss of their homeland and the hardships associated with the journey were profoundly emotional and exhausting for the expellees. It may be easier for the brain to process such violent moments of life better if it is constructed as a sequence of positive images. But the feeling remains: the own homeland, which was left – and the new „home“, which one must still compile oneself.

When you ask refugees in Germany, some people think that home means finding social contacts and work in a foreign country and learning the new language. Or that home only comes into being when the family has moved up. One Syrian writes: „For me, home is not only where I was born, but where I can feel safe and comfortable, where I can develop further, where there are many opportunities. (…) Every fugitive has somehow brought along a piece of his homeland, that could be clothes, pictures or memories. (…) Only some have managed to bring the family with them. But the family lies in the core of the feeling of belonging to a homeland.“ (The Tagesspiegel, 2018).

Home does not have to be the place of birth or residence. Home is an experienced, subjective state of feeling, independent of a geographical location. Migration research says: „It takes several generations until one has really arrived and is integrated; the stranger is experienced as a new, own home.


Home as a subjective state
Psychology defines home as follows: Independent of political, religious and social cultural definitions, home is a subjective feeling. It is a constructed mental image of all attitudes to all life experiences we have had so far (e.g. places, people and societies, personal developments, bonds, feelings, reflections, etc.).

In the end, home is not a truly existing place (even if our childhood may awaken these associations to a certain place). It is an emotional state in which we have a positive feeling.

This warm feeling of home consists of many individual ingredients:

  • Well-being / retreat / security / peace (opposite in case of loss of homeland: stress, uprooting, disorientation)
  • Control (the degree of what I can influence and what I know)
  • Identity (being allowed to be oneself, experiencing sensory fulfilment, feeling of warmth)
  • Belonging (associations with connectedness, and life experience)

Home as „somewhere where you belong to a group?“
Home where we feel we belong. Structures like our village or our city, our circle of friends, our religious community, up to our always the same local supermarket salesman, thus different communities, give us stability in life. These are places where rituals are repeated, where we define our identity.

Interestingly, in religions some people have the assumption that the afterlife after death is the real home, where one is perfect with God; so: „I am a guest on earth“. Although this is a thesis that I will not examine in life, I cannot make friends with this idea. I am a guest because life on this planet was given to me. But life takes place right here. At every new place I build and construct a new home for myself and connect myself with the old one: the memory of the feeling of home.

In my research on this article I realized: If I am homesick here in a foreign country, then it is only a temporary feeling. Homesickness is the longing, while you are in a foreign country, to want to go home again; a „feeling among strangers“. But it is only a mental picture. Because I want to be right here at this moment. I have chosen this myself and choose it again and again in my profession as a researcher who has to move constantly. After these thoughts became clear to me, my homesickness disappeared. And when it comes back, I’ll just read this blog article.

There are only 10,316 km to my home.


Here are some thought incentives and suggestions for you, if you would like to think further about the topic home:

  • What does home mean to me; what exactly does it consist of?
  • Where do I feel I belong: in which place, with which people, which community, which culture, or which religion?
  • Do I feel part of my village/town? German or European? And: is this belonging important to me, or has someone defined it for me?
  • How can I arrange my life so that I feel at home, even if I am among strangers?
  • Do we still need the concept of home in a world where everyone is mobile and digitally accessible, or is it outdated?

If you like, you can discuss your ideas openly in the comment field below (yes you can so so in English). But maybe you’d rather make yourself comfortable at home now and write this in a diary report or stare into the distance and think, maybe over a warm cup of tea.

See you soon, here.


Read more? With pleasure:

Hussein Ahmad (2018). Escape and home: Where am I at home? The Tagesspiegel, June.

Fontane, T. (1861). The most beautiful hikes through the Mark Brandenburg.

Translated with http://www.DeepL.com/Translator
(for your convenience, not as affiliate)

Bis bald. See you soon!

2 Kommentare zu „Warum fühlen wir uns an bestimmten Orten „zu Hause“? (why do we feel „at home“ in some places?)

  1. Hallo Saskia,
    ich bin vom Mond zu dir gekommen und bin beeindruckt von deinem Heimatartikel.
    Im Zeitalter des Jetsets und Internets ist die Welt kleiner geworden. Heute hier, morgen da.
    In diesem Zusammenhang hat sich der Heimatbegriff sehr verändert und ich denke, dass Heimat im Wesentlichen an Emotionen gebunden ist, die überwiegend durch menschliche Kontakte bzw. Freundschaften hergestellt werden.
    Für mich persönlich findet Heimat inzwischen nur noch `zu Hause´ statt.
    Muss aus Zeitgründen jetzt schließen! Nice to meet you!
    See you!
    Jürgen aus Loy (PJP)

    Gefällt 1 Person

  2. Lieber Pete! Schön dass du den Weg hierhin gefunden hast! Vom Mond ab sind das nur 397.111km (in dem Moment des Schreibens). Dein Kommentar ist großartig, da das Soziale und nicht nur der geographische Ort wichtig ist. Früher in den Urzeiten sind wir alle ja auch recht viel gewandert – in Gruppen. Heutzutage sind durch das Netz und die Transportmöglichkeiten viel mehr Ortswechsel möglich. Als Forscherin lebe ich z.B. konstant im Leben alle 12-36 Monate woanders. Heimat fühle ich nicht mehr, aber da wo ich bin, ist ein Gefühl das ich „zu Hause“ nenne vorhanden. Das kann an jedem sozial positiven, sicherem und sauberen Ort entstehen:) Wo/wann/unter welchen Umständen ist/ entsteht „zu Hause“ für dich?

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